Der Griff in die Psycho-Trickkiste hilft nur kurzfristig

Interview mit dem Kieler Sportpsychologen Prof. Dr. Andreas Wilhelm (Uni Kiel)

Das eigene Team heiß machen, ihm den letzten Kick geben: Sportpsychologen scheinen immer dann zum Einsatz zu kommen, wenn Trainer noch etwas mehr Leistung aus ihren Schützlingen herauskitzeln wollen. Über den Einsatz von sinnvollen und weniger sinnvollen Psychotricks im Sport und damit verbundenen Grenzüberschreitungen, sowie über die eigentlichen Betätigungsfelder der Sportpsychologie sprach das SPORTforum mit Professor Dr. Andreas Wilhelm, 49, Professor für Sportpsychologie am Institut für Sport und Sportwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Als Handballer war Wilhelm einst für TSB Flensburg und den TSV Altenholz aktiv.

Lesen Sie hier das Interview aus dem SPORTforum des LSV. Andreas Wilhelm berät und bildet den Vorstand des Ruderverbands Schleswig-Holstein fort. Außerdem steht er dem Deutschen Ruderverband bei den Trainer B-Qulaifizierungen in der Ruderakademie Ratzeburg als Referent zur Verfügung. Wilhelm hat selbst als Jugendlicher das Rudern beim Ruderklub Flensburg erlernt.


SPORTforum: Vor dem Lokalderby zwischen der SG Flensburg-Handewitt und dem THW Kiel in der Bundesliga-Hinrunde in dieser Saison hat Flensburgs Manager Fynn Holpert in einer Mannschaftssitzung sein Team mit einem angeblichen Zitat des Kieler Trainers Noka Serdarusic konfrontiert. Serdarusic hätte im Radio gesagt, Flensburg sei kein Gegner für Kiel. Nach der Partie gab Holpert laut Kieler Nachrichten zu, dass das Zitat frei erfunden war. Ein zulässiges Mittel, meinte er gegenüber den KN. Sehen Sie das auch so?

Wilhelm: Ich halte das nicht für ein angemessenes Mittel. Ich finde das schon ein bisschen unseriös. Es widerspricht dem Fairnessgedanken des Sports. Unter dem Fairness-Gesichtspunkt muss man natürlich fragen, ob man eine Mannschaft nur dadurch motivieren kann, dass man etwas Negatives über einen anderen sagt. Das ist keine elegante Art, aus der Trickkiste irgendwie eine Idee ziehen, die aber nur kurzfristig zufällig mal wirkt, aber nicht systematisch eingesetzt werden kann. Was aus der Sicht eines Trainers oder Managers problematisch ist, ist die Frage, ob er beim nächsten Mal noch glaubhaft ist. Wie komme ich in Zukunft rüber, wenn ich mit solchen Maßnahmen arbeite?

SPORTforum: Flensburgs Torhüter Dan Beutler ist jemand, der sehr stark von seinen Emotionen lebt. In dem Spiel gegen Kiel wuchs er über sich hinaus, hielt zahlreiche schwere Bälle. Gibt der Erfolg Holpert und seiner Ansprache nicht von daher Recht?

Wilhelm: Da sind wir Sportwissenschaftler immer vorsichtig, es hat zumindest nicht geschadet. Das sind Maßnahmen, mit denen ein Sportpsychologe nicht arbeiten würde.

SPORTforum: Ein anderes Beispiel: Der Fall Karabatic. Im Champions-League-Heimspiel zwischen Montpellier und dem THW Kiel war der Weltstar schwer verletzt worden. In der Kabine der Franzosen soll ein Foto ihres ehemaligen Mannschaftskameraden Karabatic mit einer Zielscheiben darauf aufgehängt worden sein. Karabatic wurde im Match hinterhältig gefoult und fiel infolgedessen lange aus. War es so gesehen ein Foul mit Ansage durch dieses Schüren negativer Emotionen gegenüber dem einstigen Mitspieler?

Wilhelm: Zum einen halte ich das für eine Verrohung der Mittel, ein unerlaubtes Mittel, das ist absolut nicht statthaft. Es muss jedem klar sein, dass das Zugpferd Karabatic infolge der Verletzung in anderen Hallen nicht mehr die Zuschauer anlocken kann. Man nimmt sich den Zuschauermagneten. Der Spaß der Zuschauer ist nicht dadurch gegeben, dass sich jemand verletzt. Das zweite ist: Wenn solche Maßnahmen wie mit dem Foto mit der Zielscheibe ergriffen werden, kann man vermuten, dass damit den Spielern von Seiten des Trainers ein gewisser Freiraum eingeräumt wird nach dem Motto: Wenn Du denn hart foulst, werden wir Dich im Nachhinein nicht zur Rechenschaft ziehen.

SPORTforum: Wie sollte Motivation idealerweise erzeugt werden – jenseits des Schürens negativer Emotionen?

Wilhelm: Zum einen geht es darum, langfristig Selbstvertrauen zu geben, sich über eigene Stärken klar zu werden, sich darauf zu konzentrieren, die eigenen Stärken abzurufen. Das muss natürlich auch in Abgrenzung zum Gegner erfolgen: Was wird auf die Spieler zukommen? Das macht zum Teil der Trainer, indem er das in technisch-taktischer Weise in der Trainingssituation durchspielt. Der Sportpsychologe würde die Gesamtsituation sehen. In welcher Lage befindet sich das gegnerische Team gegenwärtig. Wie wird es auf den Platz kommen? Ein sensibler, guter Trainer berücksichtigt diese Aspekte bereits mit. Der Sportpsychologe bleibt zumeist im Hintergrund in der Form, dass er dann bei Problemen des Athleten in bestimmten Situationen die Probleme bearbeitet. Ein anderes Beispiel: Einen Athleten, der erstmalig bei großen Meisterschaften startet, gilt es so vorzubereiten, dass er nicht vom Kopf her daran gehindert wird, sein Leistungsvermögen abzurufen. Es geht darum, dass er frei von negativen Gedanken sich voll auf die Wettkampfsituation konzentrieren kann.

SPORTforum: Druck wird auch vom Umfeld eines Athleten, etwa durch Eltern oder Trainer, aufgebaut. Wie kann man den Sportler davon entlasten?

Wilhelm: Es gibt Athleten, die damit umgehen können. Druck kann ja auch leistungsfördernd sein. Andere könnten an dem Druck scheitern. Es muss daran gearbeitet werden, dass die Athleten eine realistische Selbsteinschätzung gewinnen. Was kann ich wirklich? Der Athlet kann nur das präsentieren, was er sich antrainiert hat. Welche Zeit kann ich laufen, welche Taktik kann ich wählen? Vor der Frage, ob eine bestimmte Platzierung, der Sieg möglich ist, geht es darum, die Tätigkeit abzurufen.

SPORTforum: Mal weg von der Psychologie des einzelnen Sportlers hin zu einem immer wieder kolportierten psychologischen Ausgangssituation in Mannschaftssportarten: Ist der vielzitierte Heimvorteil eigentlich wissenschaftlich belegt?

Wilhelm: Nein, das ist nicht der Fall, es gibt sogar Annahmen, die andeuten, dass es umgekehrt sein könnte. Entscheidend ist, in welcher Situation wir vom Heimvorteil reden. Wenn der THW Kiel in der Ostseehalle spielt, dann hat er den Vorteil, dass er die Rahmenbedingungen, die dort herrschen, kennt und sich darauf nicht neu einstellen muss, was die Hallendimension angeht zum Beispiel. Jeder Spieler kann seine Wahrnehmung an bestimmten Punkten ausrichten, alle wissen, wie die Rituale ablaufen. Solche Sicherheiten nehmen Druck. Wenn zu der Wettkampfsituation noch dazu kommt, dass man unklare Ausgangsbedingungen hat, zum Beispiel im Hinblick auf das Verhalten der Zuschauer, dann muss man damit auch noch kämpfen.
Andererseits wird der Heimvorteil schnell bereits vorausgesetzt, d.h. das erhöht wiederum den Druck. Ganz entscheidend ist, wie ein Spieler damit umgeht. Generell muss man sagen, dass ein Heimvorteil auch einen Druck durch die heimische Fangemeinde bedeutet. Der kann sich sowohl positiv als auch negativ auswirken.

SPORTforum: Es gibt ja auch Mannschaften, die einen regelrechten Heimkomplex entwickeln …

Wilhelm: Wenn sich das in Serie entwickelt, wird es problematisch, dann muss man sich Gedanken machen, liegt es daran, dass das Team die Heimsituation schon mit Stress verbindet? Wir sollten eigentlich gewinnen, wir haben andauernd verloren, alle erwarten, dass wir gewinnen, uns gelingt es aber nicht und man verliert vielleicht aus den Augen, dass man die ersten drei Spiele gegen superstarke Gegner zu Hause absolviert hat, wo auch gar nichts zu gewinnen war, oder man hat gegen vermeintlich schwache Gegner gespielt und alle sagen: Da hättet ihr aber gewinnen müssen ! Gerade am Anfang einer Serie weiß man gar nicht, wo man steht. Das Thema ist viel komplexer, als es vordergründig mit dem Begriff Heimvorteil zu umschreiben ist.

SPORTforum: Kommen wir zu Ihren klassischen Einsatzfeldern an der Uni Kiel. Welche Bereiche umfasst Ihr Fach?

Wilhelm: Sportpsychologie ist in die Lehrpläne insbesondere für Lehramtsstudenten integriert , der Leistungsgesichtspunkt ist hier eher untergeordnet, es geht eher darum, welche Bedeutung psychische Vorgänge für Schüler haben, da gehören Erfahrungen, Erlebnisse mit hinein, Wahrnehmen im Spiel ist ein psychologisches Thema, wie nehme ich Spielsituationen wahr? Es geht um Gesundheit, psychologische Aspekte, Wohlbefinden, Erholung, Regeneration aus psychischer Sicht. Schließlich geht es auch um die Verbindung von Leistungssport und Schulsport, dass man sich beispielsweise fragen muss, welche Bedeutung hat ein Spitzenspieler in der Bundesliga durch bestimmte Verhaltensweisen für die Schüler und da ist es natürlich höchst problematisch, wenn Fouls, bestimmte Verhaltensweisen von Spielern nicht geahndet werden. Wir wollen unsere Lehrer und Vereinstrainer darauf vorbereiten, wie Jugendliche durch solche Negativbeispiele beeinflusst werden, wie sie sich dann verhalten und warum sie sich ähnlich verhalten werden. Negative Verhaltensweisen sollten sofort geahndet werden.

SPORTforum: Gibt es auch Athleten, die sich direkt bei Ihnen psychologische Tipps holen möchten?

Wilhelm : Es wird regelmäßig nachgefragt. Außerdem bin ich ehrenamtlich beim Ruderverband und Handballverband Schleswig-Holstein für den Bereich Sportpsychologie in der B-Trainer-Ausbildung tätig. Ich berate einzelne Trainer und bekomme mindestens ein Mal im Monat einen Anruf von einer Mutter oder einem Vater, die fragen, ob ich ihre Kinder beraten könne, weil sie im Wettkampf keine angemessenen Leistungen bringen. Zumeist sind es sehr hohe eigene Erwartungen, die den Druck so massiv erhöhen, dass es dann zur Leistungseinbuße kommt. Zum Beispiel konnten wir einem heute sehr erfolgreichen Motorsportler vor Jahren helfen, mit den eigenen hohen Erwartungen besser klar zu kommen und nicht seine Laufbahn zu beenden.

SPORTforum: Wie erklären Sie sich die langjährige Zurückhaltung in bestimmten Sportarten, z. B. im Fußball, mit Psychologen zusammen zu arbeiten?

Wilhelm: Wenn jemand zum Psychologen geht, hat er ja irgendeine Störung. Deswegen war es lange verpönt, zuzugeben, dass man jemanden zur Betreuung hat. Dabei sind Sportpsychologen Leute, die Leistungsoptimierung ermöglichen. Sie können den Trainer entlasten, sie können sich mit einzelnen Spielern auseinandersetzen, sodass der Trainer sich wieder mit der Mannschaft als Ganzes beschäftigen kann. Übrigens hat ein früherer Trainer des THW Kiel, Johann-Ingi Gunnarsson, schon im Rahmen seines Psychologie-Studiums an der Uni Kiel eine regelmäßige Beratungsgruppe aufgebaut, in der er regelmäßig seine persönliche Sicht der Dinge und seine Schwierigkeiten mit dem Job behandelt hat unter dem Motto coach the coach. Natürlich unterlagen die behandelten Themen der Verschwiegenheitspflicht. Er führte die Mannschaft nach Jahren in der Abstiegszone zur Vizemeisterschaft.
(Anm. d. Red.: Johann-Ingi Gunnarsson trainierte den THW Kiel von 1982 bis 1986. Der heute wieder in seiner Heimat Island lebende Diplom-Psychologe ließ die Zebras einmal nach einer schwachen Halbzeit mit einem Wecker in der Kabine alleine zurück und kam erst nach dem Klingeln wieder rein: Alle endlich wach geworden?)

SPORTforum: Welche Grundirrtümer gibt es in Bezug auf die Sportpsychologie?

Wilhelm: Sportpsychologen werden häufig erst dann eingeschaltet, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, dann wenn gar nichts mehr hilft, dann darf ein Psychologe ran. Das ist eindeutig zu spät. Das wird in der Sportpsychologie mit dem Begriff der Feuerwehrfunktion diskutiert, dass es für die Sportpsychologie ein Problem ist, dass nur im letzten Moment, wenn gar keiner mehr weiter weiß, ein Manager oder Betreuer vorschlägt, einen Sportpsychologen einzuschalten. Dann erwarten die Leute: Man setzt sich einmal hin, legt die Hand auf, bespricht irgendetwas und dann soll es auf einmal gehen. Einige Psychotrainer haben sich darauf spezialisiert, indem sie mit Mannschaften über Feuer laufen, aber das ist nicht im Sinne einer sportpsychologischen Beratung zu verstehen. Diese umfasst eine systematische Arbeit mit dem Sportler, zum Beispiel im Falle eines sehr schwer verletzter Spielern, der weiß, wenn er sich nochmals schwer verletzt, ist seine Karriere vorbei. Mit ihm muss man länger arbeiten und ihn zur Geduld zwingen.

Quelle: SPORTforum, Das Magazin des Landesportverbands Schleswig-Holstein, November 2007
Mit freundlicher Genehmigung des LSV

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